„In unseren Breitengraden waren die Menschen in den letzten Jahrhunderten dem jahreszeitlichen Wechselspiel von Kälte und Wärme viel stärker ausgesetzt. Damals gab es keine gute Dämmung, kaum Heizungen und erst recht keine Klimaanlagen. Das führte wiederum zu einer hervorragenden Anpassung. Heutzutage sträuben wir uns dagegen, aus unserer Komfortzone auszubrechen, das übermäßige Heizen ist ein klassisches Zivilisationsproblem. Das ganze Jahr über befinden wir uns in unserer thermischen Komfortzone. Sei es zu Hause, sei es im Einkaufszentrum oder im Auto. Wir sind keinen Extrembedingungen mehr ausgesetzt. Deshalb sind wir schlecht vorbereitet. Auf Kälte und Hitze gleichermaßen.“
Mit dieser Breitseite gegen den von vielen empfundenen und beklagten „Winter-Blues“ beantwortete Kälteforscher Erich Hohenauer in einem SZ-Interview die Frage, wie wir uns am besten auf die kalte Jahreszeit einstellen könnten - ohne nur darüber zu jammern. Der Experte für Kältetherapie im Spitzensport forscht an der Univesität SUPSI im Schweizer Kanton Graubünden und hat auch gleich einen Trost parat für das kommende oder auch nur gefühlte Kälte-Ungemach: „Aufgrund der saisonalen Wechsel zwischen kalten und warmen Temperaturen haben wir in Deutschland gute genetische Voraussetzungen, um uns an diese Schwankungen anzupassen.“
Wärme- und Kälteempfinden gehören zu unserem natürlichen Lebensrhythmus
Allerdings bestätigt Hohenauer auch gleich ein weiteres Phänomen, nämlich dass es beim Kälteempfinden eine Diskrepanz zwischen Frauen und Männern gibt. Was an der unterschiedlichen Hautdicke der Geschlechter liegt, denn die dicht unter der Oberhaut liegenden Kältesensoren werden bei Frauen etwas früher aktiviert. Und was vielleicht schon mal die oder andere Diskussion über Raumtemperaturen im gemeinsamen Schlafzimmer erübrigen kann, wenn man sich denn einfach auf verschiedene Stärken von Bettdecken einigt. Und generell soll auch – drinnen wie draußen – individuell angepasste Kleidung (Achtung: Ironie) dabei helfen, Temperaturschwankungen ohne Schaden zu begegnen.
Doch wie geht man nun allgemein am besten mit den bevorstehenden Kälteeinbrüchen um?
Hierbei ist das Mindset ganz entscheidend, wie wir im Kopf mit der Kälte umgehen. Wer schon mit der Erwartungshaltung nach draußen geht „ich hole mir eine Erkältung“ hat gute Chancen auf eine solche. Wie der Forscher weiß, hat Erkältung nur indirekt mit Kälte und der empfundenen Temperatur zu tun: „Man erkältet sich, weil gewisse Teile des Immunsystems nicht mehr optimal funktionieren, sobald man sich tiefen Temperaturen aussetzt. Die Schleimhäute werden schwächer durchblutet und trocknen aus und man ist anfälliger für Bakterien und Viren, mit denen man tagtäglich zu tun hat.“
Im Winter kürzer treten ja, aber keine totale Passivität!
Das zur kalten Jahreszeit gerne empfohlene „zur Ruhe kommen“ sollte man nicht falsch verstehen, etwa durch das reflexartige Einstellen auf einen „Winterschlafmodus“ und körperliche Inaktivität – weil’s ja kalt ist. Das Resultat kommt ein paar Monate später: die ebenfalls gefürchtete Frühjahrsmüdigkeit, die sich während dem Rückzug aus dem Leben langsam aufgebaut hat. Dem kann und sollte man entgegenwirken durch gesteigerte Bewegung. Sich der Kälte bewusst auszusetzen (natürlich mit der richtigen Kleidung) im Rahmen von Außenaktivitäten, vom einfachen Spazierengehen bis zum richtigen Wintersport, nimmt die Intensität des Kältereizes und dessen Wahrnehmung im Gehirn ändert sich – und lässt uns Kälte als „normal“ oder sogar angenehm empfinden.
Kälteforscher Hohenauer empfiehlt dazu: „Den gewünschten Gewöhnungseffekt kann man aber auch im Schlaf erzielen. Wichtig ist, sich aus der Komfortzone heraus zu trauen. Wenn ich mich an die Kälte gewöhnen möchte, dann muss ich mich ganz bewusst und regelmäßig der Kälte aussetzen. Kalte Dusche, kühle Räume, regelmäßig spazieren gehen. Nicht extrem, sondern eine sukzessive Steigerung des Reizes... Es ist Winter und ein bisschen Frieren ist erlaubt – und in Maßen auch gesund.“